16.12.2021 – 09.01.2022
Lukas Liese | Michelangelostraße non finito
Einzelausstellung Lukas Liese
Kuratorin Blanca González Galán (CLB Berlin)
In „Michelangelostraße non finito“ schlagen die Arbeiten des Bildhauers Lukas Liese eine erzählerische Brücke zwischen einer der Wiegen der westlichen Hochkunst – dem Werk von Michelangelo Buonarroti und den Marmorsteinbrüchen rund um die italienische Stadt Carrara – und dem sozialistischen Erbe der Berliner Stadtlandschaft. Lieses Werk verbindet die Qualitäten, Techniken und Materialien der klassischen Bildhauerei mit einer scharfen Reflexion des gegenwärtigen Augenblicks und der ihn umgebenden Ereignisse, wobei er diese paradoxe Spannung auf mehreren Ebenen ausgiebig nutzt.
Die hier gezeigten Werke sind das Ergebnis des jüngsten Aufenthalts des Künstlers in Carrara, der ihn dazu veranlasste, sich mit dem Erbe Michelangelos auseinanderzusetzen, der – wie sein Biograph Giorgio Vasari es ausdrückt – „viele Jahre mit dem Abbau von Marmor verbracht hat“ und der den Grundstein für die heutige industrialisierte Abbaustätte im Zentrum des weltweiten Steinhandels legte.
Die Straßenschilder Michelangelostraße & Michelangelostraße non finito führen uns jedoch an einen ganz anderen geografischen Ort, die zweite räumliche Achse der Serie und der Ausstellung: die Michelangelostraße in Berlin Prenzlauer Berg, eine rau anmutende, von DDR-Plattenbauten flankierte Randstraße, die anlässlich des 400. Todestags des florentinischen Künstlers 1964 nach ihm benannt wurde und in der Liese sein Atelier hat.
Der Begriff „non finito“, der im Italienischen wörtlich übersetzt „unvollendet“ bedeutet, wird in künstlerischen Zusammenhängen auf Werke angewandt, denen gerade wegen ihrer Unvollkommenheit oder Unvollständigkeit ein ästhetischer Wert zugeschrieben wird, unabhängig davon, ob dies eine stilistische Entscheidung des Künstlers oder ein zufälliges Ergebnis ist. Das „non finito“ ist eine Konstante im Werk von Michelangelo und wurde seither von vielen Künstlern als Ausdrucksmittel verwendet.
Eine solche unvollendete Qualität findet sich auch in der Arbeit Guardrail, einem trivialen industriellen Element, das hier in Spannung zu dem edlen Material, aus dem es geschnitzt ist, dargestellt wird, wobei seine unvollendete Seite seine Plastizität unterstreicht und seinen handwerklichen, nicht-industriellen Charakter offenbart.
Ironischerweise ist die Berliner Michelangelostraße, deren Grundriss wir in der Arbeit Michelangelostr. 1-127, 10409 Berlin, zu sehen ist, ist selbst ein non finito. Bei der Planung der neuen Wohnbebauung im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR wurden Reserveflächen für eine Hauptstraße oder Stadtautobahn freigehalten. Insbesondere die Michelangelostraße war bis vor wenigen Jahren als mögliche Trasse für den Abschluss des Berliner Rings im Gespräch. Vor dem Hintergrund der aktuellen Wohnungsknappheit in der schnell wachsenden deutschen Hauptstadt sollen die freien Flächen nun durch „behutsame Nachverdichtung“ für den Wohnungsbau genutzt werden. Eines der größten innerstädtischen Wohnungsbauprojekte Berlins, das ursprünglich 2013 angekündigt wurde und 2.500 neue Wohnungen vorsah, soll nun aber erst um 2035 mit 1.200 Einheiten fertiggestellt werden. Dabei muss sich das Projekt gegen den Widerstand eines gut organisierten Anwohnervereins wehren, der vor allem den Wegfall von Parkplätzen durch die Nachverdichtung befürchtet, sowie gegen Restitutionsansprüche ehemaliger Eigentümer von Grundstücken im Planungsgebiet aus der Zeit des Nationalsozialismus. Diese auf ihre Fertigstellung wartenden Leerstände offenbaren die Überschneidung der vielschichtigen jüngeren Geschichte Berlins mit der drängenden nahen Zukunft und zeigen das Spannungsverhältnis zwischen den Alteingesessenen der Stadt und dem Drängen einer wachsenden Population von Neuankömmlingen in ihren scheinbar unversöhnlichen Ansprüchen an den Stadtraum.
In Lieses Darstellung der umkämpften Straße, die auf einem „cavaletto“, dem typischen hölzernen Bildhauerbock aus der Region um Carrara, steht, konkurriert die krude sozialistische Stadtlandschaft mit den evokativen Qualitäten des Felsens, die ihrerseits die der Straße ihren Namen gebende Persönlichkeit widerspiegeln und die etwas absurde Assoziation unterstreichen.
In seiner neuen Arbeit Renaissance Problem, die für die Ausstellung entstanden ist, beschäftigt sich Liese mit der Verbindung der DDR zu Michelangelos Figur. In den kleinen Marmorreliefs, die mit farbigem Permanentmarker hervorgehoben sind, gibt Liese einige dieser Anknüpfungspunkte wieder. Auf einem von ihnen sehen wir den Umschlag des Buches der Tagung „Michelangelo heute“, die das Michelangelo-Komitee der DDR 1964 in der Berliner Humboldt-Universität veranstaltete, um des Künstlers zu gedenken und eine zeitgemäße Lesart seines Werkes vorzunehmen. Darin sehen sie ein Eintreten für den tätigen Menschen, für die Realität des Lebens als Ausgangspunkt für die Künste und ihre Verantwortung in der Praxis und „vielleicht ein Ahnen, daß niedres Volk deren bester Freund ist“. Vertreter des Stadtbezirks Prenzlauer Berg waren Ehrengäste der Konferenz, und ihre Initiative, die Anregung aufzugreifen, die Straße nach dem großen italienischen Bildhauer, Maler, Architekten und Dichter zu benennen, wird als Ausdruck des Willens „der Werktätigen der DDR zu aktiver Kulturarbeit“ gewürdigt.
Das Werk enthält auch eine Sammlung von Briefmarken „bedeutender Persönlichkeiten“, die 1975 (zum 500. Geburtstag von Michelangelo) herausgegeben wurden, darunter neben Michelangelo der Physiker und Mathematiker André-Marie Ampère, der Schriftsteller Thomas Mann und der Schauspieler Hans Otto. Diese verschiedenen Referenzen zeigen, dass Michelangelo zu den bevorzugten Künstlern des sozialistischen Regimes gehörte. Zwei weitere Reliefs zeigen den Plan der Michelangelostraße mit den vorgesehenen Gebäudeblöcken und das Schild der „Bar Michelangelo“ in Carrara, einem Treffpunkt für die Steinbrucharbeiter.
Als Pendant zum Werk Michelangelostr. 1-127, 10409 Berlin, auf einem anderen „cavaletto“, zeigt das Landschaftsmodell Cut off the top (Via Tacca Bianca) eine von Michelangelo geplante und gebaute Straße in den Bergen bei Carrara, um einen Steinbruch zu erschließen und an die Verkehrswege anzuschließen. Mit seinen Plänen für den Marmorabbau und den Straßenbau sowie seinen Überlegungen zur Effizienz der Transportwege legte Michelangelo den Grundstein für die Industrialisierung von Carrara, das noch heute nicht nur als Marmorabbaustätte, sondern als Zentrum für die weltweite Steinindustrie aktiv ist. In diesem Modell ist der Verlauf der Straße in die zerklüftete Oberfläche eines Steinblocks gemeißelt und führt über eine Brücke und einen Tunnel zum Steinbruch. Wie in diesem Werk wird die Landschaft der Region durch den Bergbau plastisch gestaltet, wobei die Spitzen der Berge abgeschnitten sind. Die ursprüngliche Form des Berges wird in der hohlen Unterseite der Skulptur angedeutet, die gleichzeitig an die riesigen Höhlen erinnert, die der jahrhundertelange Bergbau hinterlassen hat. Traditionell glaubten die „cavatori“, die Männer, die in den Steinbrüchen rund um Carrara arbeiteten, an die Regeneration des Marmors und betrachteten ihn als eine erneuerbare, nicht endliche Ressource. Doch wie alle natürlichen Ressourcen, die der Mensch bis zur Erschöpfung abbaut, wird sich auch der Marmor in absehbarer Zeit nicht regenerieren.
In der Reliefserie On route werden diese auf dem Gelände hinterlassenen Spuren in den digitalen Raum übertragen, indem wir mit dieser Straße aus dem 16. Jahrhundert als Screenshots ihres Verlaufs auf Google Maps konfrontiert werden. In unserem digitalen Zeitalter der globalen Vernetzung erhalten Strecken und Distanzen eine ganz andere Dimension, werden unmittelbar und abstrakt, losgelöst von ihrer greifbaren Realität. Auf diese Weise kann Liese den narrativen Kreis der Serie schließen, indem er auf der Web-Mapping-Plattform den Weg nachzeichnet, der die beiden „Michelangelo-Straßen“ physisch miteinander verbindet – eine Strecke, für die man in der analogen Welt 248 Stunden zu Fuß brauchen würde.
Michelangelostraße & Michelangelostraße non finito (2021)
Carrara-Marmor, Stahl
Maße variabel
Guardrail (2021)
Bardiglio-Marmor, Stahl
137 cm x 41 cm x 11 cm
Renaissance Problem (2021)
Permanent Marker auf Marmorrelief
je 21cm x 12cm
Cut off the top (Via Tacca Bianca) / Michelangelostr. 1-127 10409 Berlin (2021)
Bardiglio-Marmor, Holz
65cm x 32cm x 117cm & 50cm x 34cm x 105cm
On route (2021)
Carrara-Marmor
jeweils 30 cm x 90 cm x 2 cm
Foto: Andreas Baudisch
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