Stadtlust – für alle?
Der indische Architekt Charles Correa sagte einmal, die Menschen bräuchten keine Häuser, sie bräuchten Jobs. Der Rest erledige sich dann (fast) von selbst. Dazu stellte er die Entwicklung von Städten und die Vermischung der Bevölkerung mit roten und grünen Klebepunkten dar. Diese sehr vereinfachte Erklärung für Stadtwerdung und -wachstum gilt überall. Darüber hinaus gibt es einen globalen und nationalen Wettbewerb der Städte um die Mobilen und Solventen weit über das Angebot von Arbeitsplätzen hinaus. Viele Faktoren beeinflussen Bleiben und Zuzug – die wichtigen sind Infrastruktur, Grün, Kultur, Freiräume, Bildungseinrichtungen und das positive Image einer Stadt. Wenn wir von der neuen Lust auf Stadt sprechen, so sind die Schauplätze Städte, die gleich mehreren dieser Ansprüche genügen.
Die Krise als Auslöser einer neuen Stadtentwicklung
Nach dem Wiederaufbau der deutschen Städte nach Kriegsende gab es in der Folge erhebliche Defizite in der Stadtentwicklung. So titelte der bundesdeutsche „Spiegel“ im Jahr 1971: „Sind die Städte noch zu retten?“ Anlass waren Verkehrsprobleme mangelhafter öffentlicher Nahverkehr, verfallende Altstädte, Wohnungsnot, Umweltverschmutzung und Baufilz, und auch die Suburbanisierung ab den 1950er Jahren sowie die autogerechte Planung trugen zum Niedergang bei. Dazu standen die seit den 1960er Jahren gebauten Großwohnsiedlungen in der Kritik – sie waren oft schlecht angebunden, die Infrastruktur hinkte hinterher, und bis sie zu den grünen Kleinstädten von heute wurden, dauerte es naturgemäß ein paar Jahrzehnte.
„Rettet unsere Städte jetzt!“ rief die Hauptversammlung des Deutschen Städtetages der Bundesrepublik Deutschland 1971 in München. Im Anschluss wurden zahlreiche kommunale Förderprogramme auf den Weg gebracht, und so hat die Städtebauförderung, die bis heute existiert und mit dem Stadtumbau Ost auch die nach dem Mauerfall „neuen“ Bundesländer mitgestaltete, einen wesentlichen Beitrag für die Sanierung der Städte und für die Quartiersentwicklung geleistet. Einen neuen Zeitgeist prägte auch die Internationale Bauausstellung in Berlin in den 1980er Jahren mit ihrer „behutsamen Stadterneuerung“. Solche Entwicklungen legten mit ihren planerischen Ansätzen eine Grundlage für die heutige Lust auf Stadt. Doch reicht die schön sanierte Fassade nicht aus. Der ländliche Raum mit seinen oft historischen und neu geputzten kleinen und mittelgroßen Städten verliert in den letzten Jahren dramatisch an Bewohner(innen). Ihnen gegenüber stehen Städte, die einen enormen Zuzug erleben.
Die große Stadt als Freiraum
Bis zur Jahrtausendwende war die Lust auf Stadt kein Thema in der breiten Öffentlichkeit. In die großen Städte zog es vor allem eine abenteuerlustige Jugend. Die Anonymität dort war (und ist) sicher ein wichtiger Grund, ebenso wie die Möglichkeiten, die sich boten – wie das Leben in besetzten Häusern an Stelle der Bundeswehr für junge Männer in West-Berlin oder die Hafenstraße und die Musikszene in Hamburg statt der geordneten Abläufe in Bad Salzuflen. Es war der Wunsch, in der Menge unterzutauchen, der die jungen Leute in die Großstädte der damaligen Bundesrepublik zog. Zu dieser Zeit boten die Städte Raum – zum Denken und Spinnen und zum konkreten Ausprobieren. Berlin-Kreuzberg in West-Berlin sah in den 1970er Jahren aus wie der östliche Bezirk Prenzlauer Berg zum Mauerfall – Leerstand, Brachen, Einschusslöcher in den Häuserwänden. Beide Bezirke hatten ihre Zeit als Aktionsfeld für Hausbesetzer(innen), Künstler(innen), Punks und die „Kreativen“. So wurde auch die vorher vernachlässigte historische Bausubstanz zum späteren Standortvorteil für Leipzig. Die Pioniere und Raumunternehmer haben den Nährboden für die heutige Lust auf Stadt bereitet, mit ihren Ideen und ihrer Stadt-Eroberung.
Die Stadt und ihre imageprägenden Milieus
Heute ziehen den Pionier(innen) immer mehr Unternehmungslustige, Flexible und Bildungshungrige hinterher – und die Dörfer, die Klein- und Mittelstädte verlieren damit genau diejenigen, die hier die Zukunft gestalten könnten. Allein in Berlin ist die Anzahl der eingeschriebenen Studierenden in den letzten zwei Jahren um mehr als 10.000 gestiegen. In Universitätsstädten wie Leipzig, Freiburg, Würzburg und Bayreuth liegt der Anteil der 25- bis 30-jährigen 30 % über dem Bundesdurchschnitt – Tendenz steigend. Nicht die Reputation der jeweiligen Universität ist hier entscheidend, sondern vielmehr die Lebensqualität, die der neue Wohnraum verspricht. Auch die neuen Lebensformen wie Patchworkfamilie, Singlehaushalt, Wohngruppe oder auch die „neuen Alten“ suchen eine bestimmte Atmosphäre, neben ganz handfesten Angeboten wie Kitaplätzen, vernetztem Arbeiten und Wohnen, Coworking-Spaces, kurzen Wegen, Kulturangeboten und vielfältigen Konsum- und Gastronomieangeboten. All dies finden die modernen Stadtwanderer(innen) an den angesagten Orten, und je mehr von ihnen kommen, umso größer wird auch das Angebot, denn dieses bringen viele der Zugezogenen gleich selbst mit.
Und die (Neu)Städter(innen) sind Meinungsmacher(innen): Zum Phänomen der Lust auf Stadt trägt bei, dass die wissenschaftliche Begleitung von städtischen Entwicklungen und Lebensmodellen und die Trendforschung immer näher an den Objekten der Beforschung dran sind und immer früher beginnen. Diejenigen, die forschen und schreiben, sind meist Teil der imagebildenden Szene. Die Stadt in all ihren Facetten ist ein gut durchleuchtetes Untersuchungsobjekt – und Anlass für Festivals, Theater und Aktionen. Trends, Entwicklungen, Ereignisse werden durch die mediale Welt und Social Media überallhin getragen. Damit geben sie ein Versprechen ab – Teil einer urbanen Szene zu sein, die immer etwas erlebt. So kann man die Zelebrierung der Stadt auch als eine Art groß angelegte Inszenierung sehen, an deren Aufführung alle beteiligt sein wollen. Mit dabei sind auch immer mehr junge Menschen aus ganz Europa, Israel und anderen Ländern, die hier Arbeit und Vergnügen suchen.
Die Bildung als Grundlage der Stadt-Lust
Mit dem Blick auf die Szenen, welche die Stadtlust transportieren, blenden wir bewusst die große Mehrheit aus, die einfach ihr Leben in der Stadt führt, denn diese geraten höchstens unbeabsichtigt in diese Inszenierung hinein. In der Stadt leben können alle, doch die Lust auf Stadt ist nicht für alle verfügbar. Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen, dass der Eintritt in das Stadtlust-Erlebnis mit gewissen Zugangsvoraussetzungen verbunden ist. Denn was die genannten Milieus eint, ist die Bildung, die sie bereits mitbringen oder in der neuen Stadt erwerben werden. Sie prägen den Stadtdiskurs mit, und sie sind neben Politik, Verwaltung, Planung und (Immobilien-)Wirtschaft eine neue Macht geworden – in Form von Baugruppen, Genossenschaften, als Organisator(innen) neuer Wirtschaftsformen wie Streetfoodmärkten oder Babykleidungstauschbörsen, als Kulturschaffende, urbane Gärtner(innen) und Festivalbetreiber(innen), aber auch als politisch und ökologisch motivierte Initiativen. Hinzu kommen die immer zahlreicher werdenden Städtetourist(innen), die ebenfalls teilhaben wollen und neue Angebote fordern. Diese Vielfalt lockt auch Unternehmen an und bietet Experimentierfelder für neue Technik – vom Carsharing bis zum Lieferservice vom Lieblingsrestaurant. Trends können gesucht, gemacht und gepusht werden, bis die nächste Idee die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zieht. Sprechen wir von der Lust auf Stadt, so sprechen wir von bestimmten Szenen – sie ist ein Schichtenthema. Die Voraussetzungen sind Bildung, Kapital und Können, für das in diesem Kontext Nachfrage besteht, und wenn es nur das Ausgehenkönnen und damit Konsumieren ist.
Landlust in der Stadt
Auffällig an der gegenwärtigen Diskussion zur neuen Stadtlust ist, dass sie einhergeht mit der Euphorie einer neu entdeckten Landlust. Nicht nur die immer zahlreicher erscheinenden Magazine zu diesem Thema zeugen von einer Sehnsucht nach dem Einfachen, dem Natürlichen und einer überschaubaren Gemeinschaft – also erstmal nach dem Gegenteil von Stadt. Doch heute versuchen viele, alles auf einmal zu bekommen – der Trend zum Selbermachen oder zum gemeinsamen Essen des besonderen Mahls nach dem Rezept der Großmutter auf dem Markt im Szeneviertel zeugt davon. Allerorts wird versucht, das Land in die Stadt zu verpflanzen, es gibt Pflanzentauschmärkte und den Gemeinschaftsgarten neben dem Kreisverkehr. Die Idylle lockt – und bringt einen vermeintlich ökologischen Lebensstil hervor. Die Baumscheibe wird zum verordneten Biotop. Es sind die Gemeinschaftserlebnisse in einer so selbst gestalteten Umgebung, welche die Lust auf Stadt befördern. Nicht geleugnet werden soll hier, dass Internationale Gärten oder gemeinsames Kochen mit Flüchtlingen gut und hilfreich sind, doch erinnert der neue Trend zum Kleingarten und Selbermachen doch so manche(n) Stadtbewohner(in) an die Orte, die sie oder er doch bewusst verlassen hatte. Genauso auffällig ist die Tendenz, die Ruhe und Ordnung der Kleinstadt in die große Stadt mitzubringen – das innere Dorf reist mit, und die Zahl der Gleichgesinnten auch, was Klagen gegen Clubs, Lärm oder andere Belästigungen von Stadt eindrucksvoll belegen.
Die Stadt als Showroom
Stadt war immer auch Laufsteg, inzwischen ist sie eine Bar, in der jeder gesehen werden will. Was die einen im Kleinen sich ausdachten, das Restaurant, der Laden, die Werkstatt, wird immer schneller zum Trend. Das Authentisch-Sein (ich wohne schon länger hier aus du) wird in diesem Kontext zur Pflicht, und führt dazu, dass inzwischen sogar Imitationen des Authentischen begrüßt werden, weil diese die Nicht-Authentischen abziehen und so den Authentischen ein Leben ohne störende Nachahmer(innen) ermöglichen. Zunehmend groß ist der Frust derer, die sich für ihre Stadt engagiert haben, als sie noch nicht hip war, die verdrängt werden und so Opfer ihres eigenen Erfolgs sind. Und nicht zuletzt sind es die Armen, die Familien mit Migrationshintergrund und der untere Mittelstand, die lange gut genug waren, um die laute Innenstadt zu bevölkern, die nun die steigenden Mieten nicht mehr bewältigen können. Seit jeher ziehen die großen Städte darüber hinaus auch Menschen an, die gesellschaftlich nicht erwünscht sind – Arme, Kriminelle, aus Not kriminell Werdende. Denn Massen an Menschen bedeuten Arbeit und die Hoffnung auf Veränderung – womit man wieder bei den roten und grünen Klebepunkten wäre. Diese Leute kommen nicht mit einer Lust auf Stadt – sondern aus Notwendigkeit. So verstärken sich die sozialen Unterschiede, und es mehren sich die Stimmen, die ähnlich wie in den 1980er Jahren immer lautstärker verlauten lassen, dass hier etwas falsch läuft.
Die Klein- und Mittelstädte – neue Gestaltungsräume
Der Kampf um Aufmerksamkeit und Teilhabe in den großen und angesagten Städten ist hart, auch wenn das Leben leicht inszeniert ist. Und nicht alle wollen ihn mitmachen. Der Berliner Künstler, der in das thüringische Apolda zieht, ist sicher noch die Ausnahme, ebenso wie die Studierenden, die in Dessau ihr Designbüro aufmachen. Doch bieten die Städte jenseits des Hypes noch die Möglichkeiten, die viele andere schon verloren haben. Leerstand, Lücken im städtischen Angebot und Mangel an Kultur können Kräfte freisetzen. In immer mehr Städten außerhalb des medialen Wahrnehmungsspektrums entstehen Initiativen, werden Gebäude instandgesetzt, Innenstädte mit Aktionen belebt und zarte Pflänzchen wirtschaftlicher Grundlagen gesät.
Im Unterschied zu den Großstädter(innen) können ihre Protagonist(innen) es sich nicht erlauben, unter sich zu bleiben, oder sich in Szenen zurückziehen, dazu sind sie zu wenige. Sie müssen mit vielen anderen aus unterschiedlichen Disziplinen, Herkünften oder auch Weltanschauungen ebenso wie mit Politik und Verwaltung zusammenarbeiten, um ihre Ziele zu erreichen. So entstehen neue Bündnisse im Kampf gegen Schrumpfung und Untergang. Die ersten Forscher(innen) haben diesen Trend schon erkannt: Die neue Lust auf Stadt entsteht dort, wo jetzt nur wenige genauer hingucken, in den Städten abseits des Hypes. Vielleicht wird hier ja sogar die kurzlebige Lust zur langfristigen Liebe, Zeit und Platz hierfür sind da.
Dieser Artikel erschien erstmalig im Magazin Politische Ökologie, Ausgabe 142